Die meisten Prunkstücke der merowingischen Goldschmiedekunst sind heute zerstört. Erhaltene Zeugnisse, deren Zahl in der Schweiz relativ groß ist, verdienen deshalb eine ganz besondere Aufmerksamkeit. Obwohl in jüngster Zeit spürbare Fortschritte, infolge eines wiedererwachten Interesses für diese Zeitstufe, erzielt wurden, bleiben die allgemeinen Kenntnisse über diese Epoche sehr dürftig.

Der einzige Gegenstand der vorliegenden Studie, mit religiöser Funktion wie die meisten frühmittelalterlichen Goldschmiedestücke, ist ein bemerkenswertes Objekt, was die Qualität seiner Herstellung, unterstrichen durch den Reichtum der verwendeten Materialien, sowie seine historische Bedeutung betreffen.

Es handelt sich um einen Krummstab, welcher dem Märtyrer Sankt Germanus von Trier (ungefähr 610 - 675) gehört haben soll. Germanus war der erste Abt des Klosters Moutier-Grandval, errichtet durch Mönche im Gefolge des Irländers Columban, Gründer des Klosters Luxeuil.

Der Stab hat die Form eines Spazierstockes, mit einer Länge von 119,5cm und einem Durchmesser von 2 bis 2,4cm. Er besteht aus einem Haselzweig, welcher an seinem oberen Ende gekrümmt ist. Der Schaft ist mit einem Silbermantel, rhythmisch gegliedert durch flechtwerkverzierte Ringe, überzogen. Die Krücke umhüllen filigranverzierte Goldplatten, mit stilisierten Schlangenmotiven, sowie eine Verwindung von Zellenwerk mit Granaten und Glassplittern, welche Raubvögelköpfe darstellen; letztere sind untereinander durch Dreiecke, die Insekten mit gefalteten Flügeln gleichen, verbunden. Eine Zellenschmelzarbeit ersetzt einen aus unbekannten Gründen zerstörten Teil dieser Verzierung. Die Emails bilden ein abwechslungsweise rotes und grünes Zickzackmuster.

Obwohl die Forschung im Bereich der Goldschmiedekunst des Frühmittelalters stagniert, rechtfertigt sich aus mindestens zwei Gründen eine neue Untersuchung zum Krummstab des Heiligen Germanus. Erstens wurden die letzten umfangreichen Arbeiten zum Thema vor fast einem halben Jahrhundert durchgeführt (Haseloff 1955, Mossbrugger-Leu 1956). Eine Widerbegutachtung des Stabes erfolgt in Anbetracht der neuen Erkenntnisse, welche seither in den verschiedenen Gebieten, deren Beziehung sich nicht auf die Goldschmiedekunst beschränkt, errungen wurden. Sehr unterschiedliche Disziplinen wie Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie, sowie moderne Hilfsmittel, worunter technische Analysen eine bedeutende Rolle spielen, tragen auf hervorragende Weise zu einem besseren Verständnis des Objektes bei. Zweitens regt der künstlerische und historische Wert des Krummstabes den Wunsch zu einem möglichst umfassenden Verständnis an. Einerseits handelt es sich um eine Arbeit von bemerkenswerter Qualität, andererseits sprengt seine Bedeutung den regionalen Rahmen, da das Objekt, beim heutigen Forschungsstand, den ältesten bekannten mit Goldschmiedekunst verzierten Krummstab darstellt.

Die zwar nicht unumstrittene chronotypologische Gliederung des reichhaltigen Ensembles der mittelalterlichen Abts- und Bischofsstäbe, erlaubt den Krummstab des Heiligen Germanus in den Kreis der sehr selten abendländischen vorromanischen Beispiele zu stellen. Ein typisches Element dafür ist das kreisbogenförmig gekrümmte obere Ende, welches bei jüngeren Beispielen sehr schnell durch eine Volute ersetzt wird. Abgesehen von der formellen Analyse, erlaubt die Übersicht der mittelalterlichen Krummstäbe einige interessante Überlegungen zur Funktion des Objektes, sowie zu seiner Symbolik, welche sich vor allem durch die verwendeten Werkstoffe ausdrückt.

Dem Faden des Geschichte des Stabes zu folgen, von seinem vermutlichen Besitzer Sankt Germanus bis zu seinem Eintreffen im Kunsthistorischen Museum des Juras in Delsberg, erweist sich als ein nur teilweise realisierbares Unterfangen. Auch wenn er keine Inschrift trägt und von keinem frühmittelalterlichen Text erwähnt wird, im Gegensatz zu anderen Objekten, kann man dennoch die bedeutende historische Rolle einkreisen die sein sehr wahrscheinlicher Besitzer gespielt hat und dies anhand der wechselhaften Ereignisse der merowingischen Dynastie und der regionalen Machthaber am Ende des 7. Jh. Der Lebenslauf des Heiligen Germanus ist aus mehreren schriftlichen Quellen bekannt. Sie legen seinen familiären Kreis und seinen religiösen Werdegang dar: von seiner Begegnung mit Sankt Arnulf, Bischof von Metz, bis zu seinen Aufenthalt im columbanischen Kloster von Luxeuil, wo er zum Vorsteher der neu gegründeten Tochterabtei Moutier-Grandval (ungefähr zwischen 630 und 640) bestimmt wird. Diese Texte erwähnen nie einen Hirtenstab in Verbindung mit Germanus. Quellen mit direktem Bezug zum Krummstab sind wesentlich jünger. Seine erste Nennung geht auf ein verlorenes Inventar aus dem Jahre 1530 zurück. Dort wird er neben einer Bibel dargestellt, welche gerne als die berühmte Bibel von Moutier-Grandval, hergestellt im scriptorium von Tours und heute aufbewahrt in der British Library von London, gedeutet wird. Die Untersuchung der Dokumente beschränkt sich deshalb darauf die wahrscheinlichsten Hypothesen zur historischen und "mythischen" Reise des Krummstabes nach dem Tod von Germanus zu untermauern. Das Quellenstudium erlaubt es unter anderem die Bedeutung der Reliquie im Zusammenhang mit der Verehrung des Heiligen im Laufe der Jahrhunderte zu präzisieren.

Eine eingehende Prüfung des Objektes trägt bedeutendes zu seiner besseren Kenntnis bei. Makro- und mikroskopische Untersuchungen, Röntgenaufnahmen, sowie eine leistungsfähige physikalische und chemische Metalanalyse (X-Fluoreszenzspektrometrie) wurden von François Schweizer, Leiter des Forschungslabors des Kunsthistorischen Museums von Genf, sowie von seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Martine Degli Agosti durchgeführt. Diese Untersuchungen erlauben es die Werkstoffe des Stabes zu bestimmen, deren Natur bis jetzt nur vermutet worden ist. Man erlangt so die Gewissheit, dass das Holz des Krummstabes aus einem Haselzweig ist und dessen metallische Zierstücke aus Gold, teilweise vergoldetes Silber und vergoldetes Kupfer sind. Das mehrfarbige Zellenwerk, welches den oberen Teil des Stabes schmückt, bestätigt sich als kalt eingesetzte Granate, sowie blaues und grünes Glas. Nur der untere Teil der Krücke ist mit grüner und roter Zellenschmelzarbeit verziert. Die Beobachtungen und Röntgenaufnahmen eröffnen Perspektiven bezüglich der Fertigungstechniken und der Fixationsmethoden. Sie erlauben es auch eine Relativchronologie der verschiedenen Verzierungsbestandteile zu erstellen (Zusätze und Abänderungen). Diese Forschungsetape ermöglicht es gleichfalls die Qualität der Arbeit und der Werkstoffe, sowie den Erhaltungszustand abzuschätzen.

Ein Datierungsversuch stellt den natürlicher Bestandteil dieser wissenschaftlichen Untersuchungen dar. Eine C14-Datierung des gut erhaltenen Holzes wurde am Forschungslabor für Archäologie und Kunstgeschichte der Universität Oxford durchgeführt. Das breiteste Datenspektrum ergibt ein Fälldatum zu 95% Wahrscheinlichkeit zwischen 608 und 776, zu 67% zwischen 637 und 759, sowie einem Mittelwert von 665. Die erhaltene Datierung kann zwar nicht die Gleichzeitigkeit mit der Verzierung des Krummstabes belegen, bestätigt aber die formulierten kunsthistorischen Hypothesen.

Die stilistischen und technischen Untersuchungen bestärken eine mögliche teilweise gleichzeitige Fertigung des Holzes und der Verzierung des Stabes. Hierbei handelt es sich sicher um den bestdokumentiertesten der kunsthistorischen Aspekte, welcher auch die ikonographische Studie, die Besonderheiten der Herstellungstechnologien, sowie, in geringerem Ausmasse, die Herkunft der verwendeten Rohstoffe beinhaltet und so am ehesten zu einer genauen Kenntnis des Sankt Germanusstabes beitragen kann. Mit verschiedenen frühmittelalterlichen Goldschmiedestücken und Objekten anderer Art, aus archäologischen Untersuchungen oder aus Kirchenschätzen, angestellte Vergleiche ermöglichen es sogar die Zeitspanne einzuengen: die Verzierungsherstellung erfolgte danach in der zweiten Hälfte, vielleicht sogar im letzten Drittel des 7. Jh. Diese Vergleiche erlauben es auch mit grosser Wahrscheinlichkeit den südwestdeutschen Raum als Herstellungsgebiet anzugeben. Diese Folgerung beruht unter anderem auf der seit langem erkannten, immer noch gültigen Verwandtschaft des Sankt Germanusstabes mit dem Schrein des Teuderich (Mitte 7. Jh.), welcher im Schatz der Abtei von Saint-Maurice d'Agaune aufbewahrt wird. Die Hypothese einer regionalen Herstellung kann jedenfalls endgültig ausgeschlossen werden. Der vermutete Zusammenhang mit der unmittelbaren Umgebung des Heiligen Eligius, welcher regelmässig wieder erwähnt wird, muss wohl ebenso beiseite gelassen werden.

Die Emails des Sankt Germanusstabes stellen ein ganz spezifisches Problem dar, da man nachweisen kann, dass sie nicht zur ursprünglichen Ausstattung des Stabes gehören. Ihre Einfügung in die Verzierung erfolgte zu einem noch unbekannten Zeitpunkt, jedoch aus technischen und stilistischen Gründen nicht vor dem 8. Jh. Sie stammen wahrscheinlich aus einem (oder zwei ?) verschwundenen, vormittelalterlichen Reliquienschrein(en).

Da die provisorischen Schlussfolgerungen relativ zahlreich sind, kann man hoffen, dass neue Fakten den Kenntnisstand zu diesem faszinierenden Objekt erweitern werden. Ist doch der Sankt Germanusstab zugleich ein künstlerisch kostbares Gut und ein vorzüglicher Zeuge der jurassischen Geschichte.

Übersetzung: Ludwig Eschenlohr